KI im Gesundheitswesen
Digitale Arzthelfer
Künstliche Intelligenz und Wearables könnten dazu beitragen, die zunehmend unter Druck stehenden Gesundheitssysteme weltweit zu entlasten.
Die Menschheit hat ein Problem: Wir leben länger. Zwischen 2000 und 2015 ist die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit um fünf Jahre gestiegen, auf 71,4 Jahre. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO ist dies der stärkste Anstieg seit den 1960ern.
Und das ist ein Problem, denn ein langes Leben ist teuer. Personen, die Krankheiten überleben, die früher zum Tod geführt hätten, sind häufig dauerhaft auf Pflege angewiesen, und ältere Menschen haben aufgrund der immer komplexeren Gesundheitsprobleme, die mit zunehmendem Alter auftreten, grundsätzlich einen höheren Behandlungsbedarf. Zusammen mit dem Kostenanstieg durch neue Medikamente und Operationsverfahren hat dies im Gesundheitswesen zu einer Inflation geführt, die die Rate in anderen Branchen deutlich übersteigt. Laut dem Beratungsunternehmen PwC stiegen die durchschnittlichen betrieblichen Krankenversicherungsbeiträge US-amerikanischer Familien zwischen 2011 und 2016 um 20 Prozent, während die Löhne gerade einmal um 11 Prozent zulegten. Wie Daten der WHO zeigen, sind die Gesundheitsausgaben als prozentualer Anteil der nationalen Wirtschaftsleistung zwischen 2000 und 2015 in Grossbritannien um ein Drittel, in Japan um die Hälfte und in den USA um zwei Drittel angestiegen. Die Folge: In vielen Ländern herrscht akuter Notstand.

„Der Sektor, der am langsamsten auf technische Fortschritte reagiert, ist leider das Gesundheitswesen“, sagt Rami Qahwaji, Professor für Visual Computing an der britischen University of Bradford, der an der Leitung eines staatlich finanzierten Programms zur Förderung digitaler Gesundheitsangebote beteiligt ist.
Trotz der Trägheit des Gesundheitswesens ist Qahwaji überzeugt, dass es über erhebliche Potenziale verfügt. Zu den vielversprechendsten zählt der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI), die die Arbeitsbelastung von Ärzten deutlich senken könnte, indem sie ihnen bestimmte Aufgaben abnimmt. Dank Fortschritten im Bereich des maschinellen Lernens, bei dem Systeme anhand grosser Mengen von Musterdaten lernen, Vorhersagen zu treffen, können diese inzwischen erheblich komplexere visuelle Mustererkennungsaufgaben lösen, die einen grossen Teil der diagnostischen Arbeit in der Radiologie, Pathologie, Dermatologie und anderen Fachgebieten ausmachen.
Vorerst werden KI-Systeme menschliche Ärzte jedoch nur unterstützen und nicht ersetzen. Die KI ist gut darin, genau definierte Aufgaben auszuführen, sagt Elad Walach, Geschäftsführer und Gründer von Aidoc Medical. Das israelische Start-up hat ein System zur Erkennung von Auffälligkeiten in radiologischen Aufnahmen von Kopf und Hals entwickelt, das bereits in Kliniken in Europa, Israel und den USA angewendet wird. „Doch die radiologische Diagnostik ist keine eng definierte Aufgabe“, so Walach. Das Ziel ist es, die Software einen Teil der mühsameren Analysearbeit übernehmen zu lassen und die Zeit der Radiologen optimaler zu nutzen. Das System von Aidoc unterstützt Radiologen bei der Entscheidungsfindung, indem es Fälle priorisiert, die Auffälligkeiten aufzuweisen scheinen, und angibt, wo sich diese in den Aufnahmen befinden. Die endgültigen Entscheidungen treffen jedoch nach wie vor die Ärzte. Walach weist darauf hin, dass die Mediziner in einer Einrichtung nun 60 Prozent weniger Zeit auf Bildaufnahmen und Diagnostik verwenden, und fügt hinzu, dass die KI auch im Bereich der Analyse von Genmaterial Potenzial hat. Auf lange Sicht werden lernende Systeme wohl verschiedene Aufgaben im Zusammenhang mit dem Erkennen von Merkmalen, der Auswertung von Daten und der Prognose übernehmen, die einen grossen Teil der Arbeit von Ärzten ausmachen. Für so manchen Medizinstudenten könnten das schlechte Nachrichten sein, für das Budget der Krankenkassen sind es jedoch gute Neuigkeiten.
Effizienzvorteile allgemeinerer Art könnten sich ergeben, wenn die KI zur Ersteinschätzung der Beschwerden von Patienten eingesetzt wird. Entsprechend trainierte Algorithmen könnten die Patienten je nach ihren Symptomen an den passenden Ansprechpartner im Gesundheitswesen verweisen, denn eine Studie legt nahe, dass ein Fünftel der Kontaktaufnahmen mit Hausärzten und Notaufnahmen in Grossbritannien aufgrund harmloser Beschwerden stattfindet, die zu Hause behandelt werden könnten. Angesichts der Einsparungen, die sich durch die bessere Nutzung dieser Ressourcen erzielen liessen, hält die Innovationsstiftung Nesta es für wahrscheinlich, dass im Gesundheitswesen künftig verbreitet KI-Systeme als erste Anlaufstelle fungieren werden.

Am Körper getragene Geräte, sogenannte Wearables wie Smartwatches und die schon recht verbreiteten Fitnesstracker-Armbänder, sind ein weiteres Innovationsfeld mit grossem Potenzial, das Gesundheitssystem nachhaltig zu verändern. Rupert Page ist Facharzt für Neurologie und klinischer Leiter des Dorset Epilepsy Service in Südengland, der zum National Health Service des Landes gehört. Er hat rund 80 Patienten mit der Smartwatch Microsoft Band ausgestattet, die am Handgelenk getragen wird und mit dem Smartphone der Patienten verbunden ist, um zu untersuchen, ob damit tonisch-klonische Krampfanfälle – die schwerste Form von Epilepsieanfällen – erkannt werden können. Anhand der Daten ihres Beschleunigungssensors kann die Uhr 83 Prozent dieser Anfälle erkennen, was fast dem Niveau professioneller medizinischer Detektoren entspricht.
Zwar ist Page der Ansicht, dass handelsübliche Wearables noch nicht reif für den Einsatz im klinischen Alltag sind, doch bei einer ganzen Reihe von Erkrankungen sieht er in ihnen durchaus Potenzial, etwa bei der Überwachung der Lebensqualität eines Patienten anhand von Faktoren wie der Strecke, die er während einer Chemotherapie oder einer kardiologischen Rehabilitation jeden Tag zu Fuss zurücklegt. Dies könnte eine effizientere und effektivere Verlaufskontrolle ermöglichen, indem das medizinische Personal auf die Patienten aufmerksam gemacht wird, die den Daten zufolge den grössten Bedarf haben, und die Daten könnten ausserdem genutzt werden, um die Patienten gezielter zu informieren und anzuleiten.
Wearables könnten auch helfen, Probleme früher zu erkennen, etwa indem KI zur Analyse der erfassten Daten eingesetzt wird, um so die Lebensqualität der Patienten zu verbessern und im Gesundheitssystem Kosten einzusparen.
Qahwaji meint, die Arbeit von Ärzten könnte sich deutlich wandeln, wenn sie Zugang zu den Daten der Smartphones und Wearables der Patienten bekämen, und fügt hinzu, dass mit solchen Technologien auch etwas gegen Gefahren für die psychische Gesundheit unternommen werden kann, etwa gegen Einsamkeit und Isolation. Sie können zum Beispiel Menschen miteinander in Kontakt bringen. Doch bei sozialen und psychischen Problemen könnte auch der Kontakt mit der Software selbst helfen.
Woebot ist ein Chatbot, der den Benutzern Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) vermitteln soll. Alison Darcy, Gründerin und Geschäftsführerin von Woebot Labs, sagt, dass es in der KVT schon heute gang und gäbe ist, dass Aufgaben delegiert werden und günstigere, weniger qualifizierte Personen den Erstkontakt übernehmen. „Das Problem ist, sobald ein Prozess von einem Menschen abhängig ist, lässt er sich per Definition kaum noch skalieren“, so Darcy. In ihrem Fall kommt die Software bei den Personen zum Einsatz, die weniger dringend auf Unterstützung angewiesen sind, während sich die menschlichen Ärzte auf die schwierigeren und komplexeren Fälle konzentrieren.
Chatbots wie dieser, die pro weiterem Benutzer kaum zusätzliche Kosten verursachen, können für Menschen mit leichten Symptomen eine Hilfe sein und der Entwicklung schwererer Symptome potenziell vorbeugen. Solche Systeme könnten auch gesunde Verhaltensweisen unterstützen und Patienten zum Beispiel daran erinnern, ihre Medikamente einzunehmen, oder ihnen helfen, Veränderungen ihres Lebensstils beizubehalten, um Diabetes entgegenzuwirken, so Darcy.
Sie fügt hinzu, dass Chatbots auch weltweit den Zugang zu psychischer Gesundheitsversorgung verbessern könnten. Laut einem Bericht der WHO aus dem Jahr 2015 geben Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen pro Person und Jahr weniger als 2 USD für die psychische Gesundheitsversorgung aus, während es in Ländern mit hohem Einkommen mehr als 50 USD sind. „Für die meisten Menschen auf der Welt sind Therapien generell zu teuer“, sagt Dr. Darcy. „Auf lange Sicht können wir uns nicht einfach weiter darauf versteifen, dass sie die einzige Lösung sind.“
Vor diesem Hintergrund birgt der Einsatz dieser Technologien grosses Potenzial, die Arbeitsbelastung von Ärzten zu senken, die Gesundheitssysteme wohlhabenderer Länder effizienter zu machen und die Kosteninflation im Gesundheitssystem zu verlangsamen oder zu stoppen. Langfristig könnten so Ressourcen für eine bessere psychische und soziale Versorgung der Patienten frei werden. In ärmeren Ländern dagegen werden solche Technologien von grundlegender Bedeutung sein, um Gesundheitsstandards zu etablieren, die anderswo als selbstverständlich gelten.
Dieser Artikel wurde von The Economist Intelligence Unit verfasst. Ursprünglich veröffentlicht wurde er auf:
https://innovationmatters.economist.com