Anwendung der Neurowissenschaft auf die Geschäftswelt
Wie die Hirnforschung unser Leben und Arbeiten neu definiert
In nicht allzu ferner Zukunft könnte der Gang zum örtlichen Radiologen Teil des Bewerbungsverfahrens oder der Jobsuche sein, so Professor Michael Platt, Leiter der Wharton Neuroscience Initiative an der University of Pennsylvania.

Das menschliche Gehirn ist äußerst kompliziert.
Selbst eine scheinbar einfache Entscheidung, wie zum Beispiel die Feststellung, ob eine Ampel rot oder gelb ist, ob gebremst oder beschleunigt werden muss, erfordert hochkomplexe Verarbeitungsprozesse. Es konnten die Teile im Gehirn identifiziert werden, in denen die Informationen verarbeitet werden, die dem Fahrer die Farbe der Ampel auch dann mitteilen, wenn sie nicht eindeutig erkennbar ist, und andere Teile, die bei jeder Entscheidung das abwägen, was Wirtschaftswissenschaftler als den "Nutzen" bezeichnen. Für den Fahrer könnte diese Abwägung des "Nutzens" die Frage beinhalten, in welchem Verhältnis das Risiko eines Unfalls zu dem Risiko steht, zu spät zur Arbeit zu kommen - was immer davon abhängt, welche Bedeutung wir persönlich dem jeweiligen Endresultat beimessen.
Die neuronale Aktivität besteht auch dann noch weiter, wenn bereites eine Entscheidung getroffen wurde und eine motorische Reaktion erfolgt ist (Gas geben oder abbremsen). Das Gehirn berechnet dann, ob das Ergebnis der getroffenen Entscheidung besser oder schlechter als erwartet ausgefallen ist.
Habe ich die Ampel noch geschafft? Bin ich noch pünktlich zur Arbeit gekommen? Oder bin ich in den Gegenverkehr gefahren? Diese Analyse wird dann verwendet, um unsere Interpretation vom jetzigen Zustand der Welt und den Wert zu aktualisieren, den wir den verschiedenen Handlungsoptionen beimessen.
Mithilfe der funktionellen Kernspintomographie (fMRI) und anderer Verfahren können wir inzwischen herausfinden, welchen Wert eine Person einer Sache beimisst, indem ihr Gehirn untersuchen.
Solche Untersuchungen haben zum Beispiel ergeben, dass es etwas gibt wie eine "zu große Auswahl". Eine Vielzahl von Optionen kann den menschlichen Entscheidungsprozess verlangsamen und lässt uns mit der Entscheidung weniger zufrieden sein, die wir schließlich getroffen haben.
Die Entscheidung fällt am schwersten, wenn jede Option ein Risiko beinhaltet (es also ein Risiko gegenüber dem anderen abzuwägen gilt). Am leichtesten und schnellsten wird entschieden, wenn es ein bekanntes und ein unbekanntes Ergebnis gibt (Gewissheit gegenüber Ungewissheit).
Entscheidungen, die Risiken und Ungewissheiten beinhalten, aktivieren unterschiedliche Bereiche des Gehirns auf eine Weise, die Rückschlüsse auf die Bereitschaft der betreffenden Person zulässt, mit Ungewissheiten zu leben.

Untersucht man also Reaktionen einer Person auf verschiedene mögliche Optionen im fMRI, lässt sich feststellen, wie groß ihre Toleranz gegenüber Ungewissheiten oder Risiken ist, und dieses Wissen lässt sich nutzen, um ihr Verhalten richtig vorherzusagen.
Die Neurowissenschaft hat auch bestätigt, dass wir von der Macht der Gewohnheit bestimmt werden, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen - dies bleibt in ökonomischen Modellen häufig unberücksichtigt.
Wenn Menschen aus ihrer gewohnten Routine herausgerissen werden, kann das ihr Leben auch dann empfindlich stören, wenn diese Routine überhaupt nicht optimal war. Im Frühjahr 2014 waren Pendler in London gezwungen, ihren Anfahrtsweg neu zu planen, weil das U-Bahn-Netzwerk für zwei Tage nahezu vollständig ausfiel. Eine Analyse der Saisontickets für den öffentlichen Nahverkehr in Großbritannien ("Oyster Cards") ergab, dass viele Passagiere ihre neue Route beibehielten, nachdem der normale Betrieb wieder aufgenommen wurde. Sie hatten festgestellt, dass sie durch die Veränderung sowohl Zeit als auch Geld sparten.

In der Geschäftswelt sind solche Informationen besonders nützlich für Marketingexperten, die mithilfe der Neurowissenschaft bald wirksame Kampagnen entwickeln könnten. Die Ergebnisse einer fMRT-Untersuchung einer Stichprobengruppe wurden bereits verwendet, um die individuelle Reaktion auf verschiedene Werbeanzeigen zu prognostizieren, die sich erstaunlicherweise für ein Massenpublikum verallgemeinern lassen.
Ein weiterer Bereich, der von solchen Verfahren profitieren könnte, ist die Personalrekrutierung und Talententwicklung. Durch Pupillenscans können wir mithilfe der Neurowissenschaft herausfinden, ob ein potenzieller Mitarbeiter auf klare Ergebnisse fokussiert oder eher kreativ ist, um so bestimmen, für welche Art von Arbeitsplatz oder Arbeitgeber er oder sie am besten geeignet ist (zum Beispiel für ein FTSE 100-Unternehmen oder ein Startup).

Eine Studie an Rechtsanwälten geht sogar noch weiter und analysiert vom Studenten im ersten Jahr bis zum erfahren Profi die Verhaltensweisen und Merkmale hunderter Freiwilliger, um herauszufinden, ob es Unterschiede in der Gehirnstruktur von Anwälten, Staatsanwälten und Richtern gibt.
Das Verfahren wird außerdem eingesetzt, um Teamarbeit darauf zu untersuchen, welche Arten von Menschen am besten zusammenarbeiten, und welche Teams für bestimmte Situationen am besten geeignet sind.
Wenn diese Forschungsarbeit weiter verfeinert und angewendet wird, können wir mit der Neurowissenschaft vielleicht bald nicht nur eine geeignete berufliche Laufbahn für jede beliebige Person vorschlagen. Wir können auch Menschen mit bestimmten Karrierezielen dabei unterstützen, Bereiche zu identifizieren, an denen sie noch arbeiten müssen, um ihre Ziele zu erreichen.
Schließlich bietet die Neurowissenschaft nicht nur das Potenzial, das Geschäftsleben zu revolutionieren, sondern verspricht außerdem neue Möglichkeiten zur Heilung neurologischer Erkrankungen, die die Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigen. Untersuchungen auf der Grundlage dieser klinischen Forschungsarbeit haben ergeben, dass Sport und Achtsamkeitsmeditation die Hirngesundheit verbessern und so die Zufriedenheit und die Produktivität fördern.