Das Rad neu erfinden

Elektro- und autonome Fahrzeuge verändern nicht nur die Automobilindustrie.

Der Umstieg von der Kutsche auf motorisierte Strassenfahrzeuge vor einem Jahrhundert veränderte die Städte überall auf der Welt in einer Art und Weise und in einem Masse, wie es sich kaum jemand hätte vorstellen können.

Das Auto war nicht bloss ein „schnelleres Pferd“ und ein Segen für die Automobilindustrie: Es führte zur Entstehung der ersten Einkaufs- und Fachmarktzentren und Drive-in-Schnellrestaurants. Entfernungen waren plötzlich kein Problem mehr und die Städte dehnten sich in die Randgebiete aus.

Das Auto transformierte auch andere Industriezweige und trug zur Entstehung neuer Branchen bei. Durch die Massenmotorisierung stieg der Bedarf an nicht erneuerbaren Brennstoffen, sehr zur Freude der Ölindustrie. Gleichzeitig stieg die Zahl der Unfalltoten und durch die Zunahme von Fettleibigkeit und Herz-Kreislauf-Erkrankungen wurde das Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen gestellt.

Jeder wollte ein Auto besitzen, was zu Innovationen an den Kredit- und neu entstehenden Finanzmärkten führte. Anfang des 21. Jahrhunderts verändert sich die Mobilität erneut in einem Masse wie zuletzt mit dem Modell T von Ford.

Und wie damals gehen mit den neuen Strassenfahrzeugen überraschende und umfassende Entwicklungen einher, die weit über die Automobilindustrie hinausgehen.

Eine spannende Zukunft

Die beiden wichtigsten Veränderungen bei Strassenfahrzeugen werden der Umstieg von fossilen Brennstoffen auf elektrische Batterien und von menschlicher Bedienung zu Autonomie sein.

Die Elektrifizierung schreitet unaufhaltsam voran, beschleunigt durch sinkende Kosten für Batterietechnlogie, staatliche Anreize sowie gesunden Wettbewerb und Innovation von Autobauern. Die Anzahl der batteriebetriebenen Fahrzeuge (vollelektrisch und Plug-In-Hybrid) ist bis Ende 2025 voraussichtlich auf über 12 Millionen gestiegen, so Schätzungen von IHS Markit, einer Organisation, die den Elektrofahrzeugmarkt beobachtet.

Das sind weniger als 3% der weltweiten Flotte, aber die Zahl steigt rasant und in einigen Regionen ist sie viel höher. In Norwegen liegt der Anteil bei 29%. Die Teilnehmerländer der Electric Vehicles Initiative, darunter die EU, USA und China, haben sich darauf verständigt, dass 30% ihrer Strassenfahrzeuge bis 2030 elektrisch sein werden.

Die Umstellung von Benzin zu Strom könnte die Energieindustrie ebenso beeinflussen wie es die ersten Pkw taten. Elektrofahrzeuge werden die Luftqualität in den Städten verbessern und die CO2-Emissionen sinken lassen, solange der genutzte Strom nicht aus fossilen Brennstoffen stammt.

Aber dafür muss die nationale Elektrizitätsinfrastruktur angepasst werden. Auch wenn schwer vorherzusagen ist, wie viele Menschen ein Elektrofahrzeug besitzen werden, gehen Schätzungen davon aus, dass eine vollelektrische Flotte zu einem Anstieg des Strombedarfs um 10–20% führen würde.

Die Fahrzeuge werden häufig zu Hause aufgeladen und ziehen 7 kW oder mehr aus der Steckdose, bei typischen Haushaltsgeräten sind es im Schnitt 1–1,5 kW.

Phil Taylor, Siemens Professor für Energiesysteme an der Newcastle Universität, geht davon aus, dass Kapazitätsprobleme dann auftreten werden, wenn 60% der Haushalte in städtischen Bereichen Elektrofahrzeuge besitzen (bzw. 20% in ländlichen Gegenden, weil die lokalen Stromnetze dort schwächer sind).

Durch Innovation bei „Smart Charging“, wo die Nutzer variable Beträge abhängig von der aktuellen Nachfrage zahlen, kann das Problem gelöst werden. Nutzer könnten dafür bezahlt werden, wenn ihre ans Netz angeschlossenen Elektrofahrzeuge Strom speichern und in das Netz einspeisen. Dadurch würde die Nachfrage ausgeglichen und die Nutzung von saubereren, aber schwankungsanfälligen Stromproduzenten wie Windkraftanlagen gefördert werden.

„Wenn wir in Zukunft eine Flotte von Millionen Elektrofahrzeugen haben, die alle in der Lage sind, koordiniert Strom aus dem Netz zu entnehmen oder dort einzuspeisen, könnte das unglaublich wertvoll sein, um die Stabilität des Netzes zu gewährleisten und gleichzeitig in grossem Teil erneuerbare Energie zu nutzen“, so Taylor.

Die Elektrifizierung hat noch weitreichendere Auswirkungen. Sie führt vermutlich dazu, dass es weit weniger Ladestationen geben wird, da die Fahrzeugbesitzer ihr Fahrzeug zu Hause aufladen. Das wird sich stark negativ auf den Einzelhandel in der Nähe der Ladestationen auswirken. Wenn der Staat hohe Einnahmen aus der Mineralölsteuer erzielt, muss er eine alternative Quelle finden.

Da ein Elektroantrieb weniger bewegliche und Verschleissteile hat, dürften Servicetechniker und Mechaniker überall auf der Welt – allein in der EU eine Armee von 1,53 Millionen – weniger zu tun haben.

Der Fortschritt bei autonomen Fahrzeugen ist weniger sicher, die Technologie steckt noch in den Kinderschuhen.

Wenn sie dann aber auf die Strassen kommen, sei es teil- oder vollautonom, dürfte sich dadurch einiges grundlegend verändern.

Der grösste Vorteil wären weniger Tote und Verletzte durch Unfälle. Jedes Jahr sterben weltweit 1,3 Millionen Menschen im Strassenverkehr, so die Association for Safe International Road Travel.

Das wäre ein Segen für Gesundheitssysteme und Rettungsdienste. Weniger Unfälle hätte in der Folge auch eine positive Wirkung auf das Gerichtswesen, Versicherungen und andere Bereiche, die mit Unfällen zu tun haben.

Fahrerlose Fahrzeuge machen definitionsgemäss Berufskraftfahrer überflüssig, allein in der EU sind das 4,4 Millionen Menschen.

Da diese Fahrzeuge bei Bedarf selbst zu den Nutzern fahren, dürfte auch das Mieten von Fahrzeugen günstiger werden, sodass weniger Menschen ein eigenes Auto besitzen wollen. Viele Unternehmen gehen davon aus, dass sich eine Verlagerung vom Autobesitz zur reinen Fahrzeugnutzung vollziehen wird. Fahrzeughersteller gründen bereits Allianzen mit appbasierten Taxidiensten.

Didi Chuxing, eine chinesische Mitfahrzentrale und das wertvollste Startup der Welt, erklärte vor Kurzem, dass man mit 31 Unternehmen zusammenarbeite, um eigene Fahrzeugmodelle zu entwickeln.

Toyota fördert ein Londoner Startup-Unternehmen, um seine technologische Expertise im Bereich Fahrgemeinschaften und Car-Sharing auszubauen. John Ellis, ehemaliger Cheftechnologe für Ford und Autor von The Zero Dollar Car, hält Car-Sharing mit autonomen Fahrzeugen für wirtschaftlich extrem attraktiv.

Die American Automobile Association hat errechnet, dass es 2017 durchschnittlich 8.469 US-Dollar pro Jahr kostete, ein Auto zu besitzen und zu unterhalten, einschliesslich Verschleiss, Wartung und Kraftstoff.

Dabei werden die Fahrzeuge die meiste Zeit nicht bewegt. „Obwohl das Auto die zweitgrösste Anschaffung ist, die man im Laufe seines Lebens tätigt, wird es so wenig genutzt wie sonst kein anderer Gegenstand, den man besitzt“, so Ellis. Elektrofahrzeuge bieten sich für eine gemeinsame Nutzung an: Der Anschaffungspreis ist höher, aber die Wartungs- und Treibstoffkosten sind geringer.

Analysten der Boston Consulting Group haben ermittelt, dass die Kosten für die Nutzung eines gemeinsam genutzten autonomen Elektrofahrzeugs auf 70 US-Cent pro 1,5 km sinken könnten. Ein eigenes Auto dagegen kostet im Durchschnitt 1,20 US-Dollar pro 1,5 km.

Eine Zukunft, in der Autos grösstenteils gemeinsam genutzt und nicht mehr besessen werden, würde ganz anders aussehen.

Da die Fahrzeugnutzer nicht mehr am Steuer sitzen, wollen sie unterhalten werden. Diese Erkenntnis veranlasste den Autobauer Renault, 40% von Pedriel zu erwerben, einem Herausgeber eines Hochglanzmagazins. Genau zu wissen, wo potenzielle Kunden gerade sind, und die Möglichkeit, sie zu einem kleinen Umweg zu bewegen, um Geld auszugeben, könnte auch für Werbeunternehmen sehr attraktiv sein.

Autonome Fahrzeuge dürften auch die bebaute Umwelt verändern, aber wie genau, hängt davon ab, wie sie genutzt werden. Die Boston Consulting Group schätzt, dass bis 2030 knapp 25% aller in den USA gefahrenen Passagierkilometer auf gemeinsam genutzte autonome Elektrofahrzeuge entfallen werden.

Mehr Car-Sharing bedeutet auch weniger private Garagen in den Vorstädten, so Mark Wilson, Professor und Programmdirektor für Stadt- und Regionalplanung an der Michigan State University. Dadurch ist eine höhere Bevölkerungsdichte möglich. Effizienteres und sichereres computergesteuertes Fahren hat zur Folge, dass weniger Fahrspuren nötig sind. Das bedeutet mehr Platz für Fussgänger und Radfahrer.

On-demand-Fahrzeuge werden mehr oder weniger regelmässig genutzt werden“, so Wilson. Dadurch reduziert sich der Bedarf an Parkflächen, sodass dort Gewerbe- und Wohnraum entstehen kann. Dadurch werden die Stadtzentren neu belebt. Mit abnehmender Nachfrage nach Parkflächen bei Neubauten könnten sich auch die Baukosten deutlich reduzieren.

Wenn aber ein Grossteil der Menschen lieber alleine unterwegs ist, aus Gründen der Sicherheit oder der Privatsphäre, könnte die Entwicklung anders verlaufen. Da die Fahrgäste nicht selbst fahren müssen, fahren sie vielleicht auch längere Strecken zur Arbeit. Diese längeren Pendlerstrecken sowie fahrerlose Fahrten zu Parkhäusern, wo die Fahrzeuge bis zur Heimreise warten, könnten zu einer stärkeren Strassenauslastung und zu Staus führen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass das Angebot eine eigene Nachfrage schaffen kann.

Elektro- und autonome Fahrzeuge werden zweifellos die Industrien und die Städte tiefgreifend verändern, aber wie genau, hängt davon ab, wie wir sie nutzen werden. Wilson erinnert sich daran, wie Anfang der 1990er-Jahre das Internet als technische Entwicklung aufkam.

„Wenn wir uns heute das Internet und Dinge wie Freisprechen oder E-Commerce anschauen, stellen wir fest, dass das, was das Internet ausmacht, hauptsächlich durch soziale Faktoren bestimmt ist“, so Wilson. Das hatten nur sehr wenige genau vorhergesagt. „Dasselbe wird mit autonomen Fahrzeugen passieren.“