Chinas Renaissance

Während der Renaissance gestaltete Europa die neue Weltordnung. Nun ist China an der Reihe, die Karten neu zu mischen.

Vor 500 Jahren führte Italien die Welt mit der Renaissance in ein neues Zeitalter. Heute werden wir erneut Zeuge einer Wiedergeburt – mit einem entscheidenden geografischen Unterschied.

„Ein Teil der Welt, der bis dahin eine absolute Nebenrolle spielte – politisch, wirtschaftlich und militärisch –, wurde plötzlich zum Mittelpunkt des Weltgeschehens. In der Renaissance war das Italien. Nun kommt diese Rolle China zu“, sagt Chris Kutarna, Historiker und Mitautor des Bestsellers „Age of Discovery“.

Genau wie vor 500 Jahren ist auch diesmal der Handel entscheidend für das sich wendende Schicksal der Weltmächte. Damals führten neue Navigationsinstrumente für die Seefahrt dazu, dass sich der Fokus weg von der Seidenstrasse und hin zu Küstenstädten wie Sevilla verlagerte – und mit ihm das Geld. Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte hat eine ähnliche Verschiebung stattgefunden.

„Im Jahr 1990 befand sich kein einziger der 20 grössten kommerziellen See- und Flughäfen in China. Heute sind die meisten von ihnen dort zu finden, sowohl für den Handel als auch für den Verkehr“, so Kutarna. „Auch der Handelsmix hat sich stark verändert... 1995 führte China Computer ein und Textilien aus. Heute ist es mehr oder weniger anders herum.“

Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte ist Chinas Beitrag zum globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 4,1 Prozent auf 18,7 Prozent gestiegen.1 Nun arbeitet das Land daran, den Übergang von der Werkbank der Welt zur Technologienation und von fossilen Brennstoffen und enormer Umweltverschmutzung zu sauberer Energie und sauberer Luft zu schaffen.

Einhörner fördern

Sein Schlüssel zum Erfolg ist die Spezialisierung: China sucht sich bestimmte Bereiche aus, auf die es sich konzentriert, und führt das Know-how gezielt in Innovationszentren zusammen.

„In Florenz lebten mehr herausragende Künstler als im gesamten übrigen Europa zusammen. Wenn man ein aufstrebender Künstler war, musste man also einfach nach Florenz gehen. Heute mag der geografische Standort bis zu einem gewissen Grad irrelevant erscheinen, doch was den Aufbau von neuem Wissen anbelangt, sind Ballungszentren eigentlich sogar wichtiger denn je“, merkt Kutarna an. „China hat ganz bewusst versucht, Regionen zu schaffen, in denen sich bestimmte Branchen konzentrieren. Das Land hat erkannt, dass es eine kritische Masse aufbauen muss, um eine Rolle zu spielen.“

So haben sich etwa in Peking bereits mehr als eintausend Unternehmen angesiedelt, die auf künstliche Intelligenz (KI) spezialisiert sind2 – einen Bereich, dessen Entwicklung die Regierung im Rahmen ihrer ehrgeizigen „Made in China 2025“-Strategie besonders fördert.  

Im vergangenen Jahr stammten 48 Prozent der weltweiten Eigenkapitalinvestitionen in KI-Start-ups aus China und 38 Prozent aus den USA.3 Was die Zahl der Einhörner, also der Start-up-Unternehmen mit einem Wert von über 1 Milliarde USD, anbelangt, hat das Land der Mitte die USA bereits überholt.4

Die Gründung einer neuen Börse im Stile des Nasdaq, die im Juli in Peking ihren Betrieb aufnahm, hat Chinas Tech-Unternehmen neue Finanzierungsmöglichkeiten eröffnet. Und da sich China zum Ziel gesetzt hat, seinen Bedarf in verschiedenen Schlüsselbereichen wie der Robotik und der Informationstechnologie zu 70 Prozent selbst zu decken, sind in den kommenden Monaten und Jahren weitere Investitionen und Initiativen zu erwarten.

Starker Rückhalt

Chinas Einhörner haben gegenüber ihren US-amerikanischen Pendants einen entscheidenden Vorteil: Viele gehören etablierten Tech-Giganten wie Baidu, Alibaba oder Tencent. Dadurch haben sie einfachen Zugang zum Internet und zu riesigen Nutzerzahlen, was die Kosten für die Kundenakquise drastisch senkt und ihnen von Tag 1 an ein grosses Marktpotenzial eröffnet. In einer solch komfortablen Lage befinden sich nur wenige amerikanische Tech-Start-ups.

Ein weiterer entscheidender Vorteil ist der Zugang zu Daten. In China, wo das Wirtschaftssystem privates und staatliches Unternehmertum miteinander kombiniert, sind Informationen einfacher zu sammeln und zu bekommen als in den meisten industrialisierten Volkswirtschaften.

„Je mehr Daten von hoher Qualität zur Verfügung stehen, desto höher wird auch der Nutzen des Algorithmus sein“, meint Kutarna, der mehrere Jahre in Peking gelebt und gearbeitet hat.

Die Art und Weise, wie China regiert wird, macht es einfacher, über mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte hinweg an Plänen festzuhalten, als dies bei den häufigen politischen Richtungs- und Regierungswechseln möglich ist, die man aus Industrienationen kennt. Dank dieses langfristigen strategischen Ansatzes können Innovationen im Tech-Bereich und anderen offiziellen Schwerpunktbereichen wie etwa den erneuerbaren Energien einfacher gefördert werden.

2017 hat China rund 53 GW Solarenergieleistung installiert – mehr als die gesamte Welt zusammen drei Jahre zuvor – und 13-Offshore-Windpark-Projekte angestossen. Insgesamt hat es 12,6 Milliarden USD in erneuerbare Energien investiert, also 45 Prozent der weltweiten jährlichen Gesamtsumme. Im Jahr zuvor waren es noch 35 Prozent.5

„Wie fortschrittlich ein Land in Umweltfragen denkt, hängt normalerweise von seinen Rohstoffvorräten ab. Lässt man die sehr schmutzige Kohle einmal aussen vor, verfügt China nur über sehr wenige fossile Brennstoffressourcen. Es ist auf riesige Erdölimporte angewiesen“, so Kutarna, der sich in seiner Doktorarbeit an der Oxford University mit der Politik Chinas auseinandersetzte. 

„Wenn sich ein Ersatz für das Erdöl findet, dann kann China eine seiner strategischen Schwächen in eine Stärke verwandeln. Deshalb war es nicht schwer, die kommunistische Partei von der Idee zu überzeugen.“ 

Erfolge bringen jedoch ihre ganz eigenen Herausforderungen mit sich. Chinas Entschlossenheit wird noch auf die Probe gestellt werden, vor allem nun, da eine Phase schwächeren Wirtschaftswachstums bevorsteht, die die Finanzierung neuer Initiativen erschweren wird.

Im Zuge der Entdeckungsreisen der Renaissance gelangten Waren in die ganze Welt – mit ihnen aber auch Krankheiten. Und der Buchdruck, der das Lesen massentauglich machte, befeuerte gleichzeitig auch revolutionäre Ideen und führte zu politischen Unruhen.

„China steht in den nächsten 20 bis 30 Jahren eine Reihe ziemlich grosser Herausforderungen bevor“, meint Kutarna abschliessend. „Wir sollten nicht dem Mythos verfallen, die Renaissance sei ein goldenes Zeitalter. Ich sehe sie als einen Wettstreit um die Zukunft, bei dem viel auf dem Spiel steht. Entweder werden wir die Energie zu unseren Gunsten nutzen oder sie wird uns zerreissen.“

[1] IWF, globales BIP in USD unter Annahme von Kaufkraftparität
[2] Startup Genome, 2019 
[3] CB Insights, 2019
[4] CB Insights
[5] Frankfurt School-UNEP Centre und BNEF, Global Trends in Renewable Energy Investment 2018