Die grosse Zeitenwende: eine Analyse

Es wird Zeit, dass wir die Zukunft ernst nehmen, sagt Mark Stevenson, Autor der preisgekrönten Werke „Morgen ist heute gestern“ und „We Do Things Differently“.

Eine gewaltige Welle neuer Technologien schwappt über unsere Gesellschaft hinweg und droht, Wirtschaftsmodelle mit sich zu reissen und soziale Normen auszuhebeln. Wo gehobelt wird, fallen bekanntlich Späne. Grosse Unternehmen haben bereits jetzt Probleme, mit den Veränderungen Schritt zu halten.

Auch wenn sich die Zukunft nur schwer vorhersagen lässt, bin ich davon überzeugt, dass wir uns auf sie vorbereiten können. Wir müssen die richtigen Fragen stellen, zukunftsorientiert denken und neue Chancen ergreifen.

Der technische Fortschritt beschleunigt sich. Im 19. Jahrhundert dauerte es 46 Jahre, bis die Elektrizität bei einem Viertel der US-amerikanischen Bevölkerung Einzug gehalten hatte. Machen wir einen Sprung zum Ende des 20. Jahrhunderts, hat sich das World Wide Web dagegen bei dem gleichen Anteil (einer deutlich grösseren Bevölkerung) innerhalb von nur sieben Jahren durchgesetzt.

Dem Mooreschen Gesetz folgend hat die Rechenleistung pro Dollar seit den 1970er Jahren um ein Milliardenfaches zugenommen. Ein Smartphone verfügt heute über eine höhere Verarbeitungsleistung als das gesamte Apollo-Raumfahrtprogramm. Dinge, die wir unlängst noch als Science Fiction abgetan hätten, sind heute Wirklichkeit. Diese exponentielle Entwicklung ist auch in anderen Technologiebereichen zu beobachten, und sie bringt jede Menge Fragezeichen mit sich.

Durchbruch der erneuerbaren Energien

Seit der französische Erfinder Augustin Mouchot 1878 anlässlich der Pariser Weltausstellung seinen Sonnenkollektor vorstellte, hat der Solarstrom alle zwei bis fünf Jahre seinen Preis halbiert und seine Kapazität verdoppelt. Global betrachtet sind wir wohl weniger als 25 Jahre davon entfernt, unseren gesamten Strom hauptsächlich aus erneuerbaren Energien zu gewinnen. Dubai kauft seinen Solarstrom heute zu einem Drittel des Preises ein, den britische Gaskunden zahlen. Georgetown, eine Stadt im Herzen des Öl-Bundesstaats Texas, nähert sich einer Quote von 100 Prozent erneuerbarer Energie, für deren Erzeugung deutlich weniger Wasser nötig ist als bei herkömmlichen Energiequellen – ein entscheidender Pluspunkt in der dürregeplagten Region.

Treibstoff aus Luft, ein billionenschwerer Markt

Bereits heute existieren die notwendigen Verfahren, um Kohlenstoff aus der Luft zu filtern und in künstliches Erdöl umzuwandeln. Verschiedene Firmen treiben die Kommerzialisierung des Prozesses mit Hochdruck voran, und Firmen wie Carbon Engineering aus Calgary erhalten dabei Unterstützung von Investoren wie Bill Gates. Das Solar Fuels Institute prognostiziert, dass kommerzieller Treibstoff aus Luft bis Ende der nächsten Dekade erhältlich sein wird.

Die Wirtschaft ist eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Umwelt, nicht andersherum.

Die Rache der Umwelt

Eine von acht Personen stirbt heute an den Folgen von Luftverschmutzung. Umweltkatastrophen kosten die Weltwirtschaft jährlich 7,3 Billionen USD – das entspricht fast einem Zehntel des weltweiten BIP. Das sind enorm hohe Rechnungen, die wir früher oder später begleichen müssen. Die Wirtschaft ist eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Umwelt, nicht andersherum. Jede Investition, die keine neutrale Ökobilanz hat, ist keine Investition im eigentlichen Sinne – sie ist ein Kostenpunkt der Zukunft.

Revolution 3D-Druck

Schon bald werden 3D-Drucker in der Lage sein, alle Komponenten zu drucken, die zur Herstellung von 3D-Druckern nötig sind. Das deutsche Unternehmen Nanoscribe beispielsweise stellt 3D-Präzisionsdrucker her, die in einer Grössenordnung 80.000-mal kleiner als ein menschliches Haar drucken können – die Grössenordnung von Mikrochipkomponenten (und ja, einfache Vertreter solcher Komponenten werden bereits gedruckt). Wenn wir Produktionsprozesse demokratisieren und dezentralisieren, bekommen Innovationen neuen Antrieb.

KI-Ärzte und Gene Editing

Mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) lassen sich Krankheiten zuverlässiger diagnostizieren, als es menschliche Ärzte allein könnten. Gleichzeitig übersteigt die Geschwindigkeit des Fortschritts im Bereich Gensequenzierung seit 2008 das Mooresche Gesetz um das Vierfache. Bei diesem Tempo werden wir bis Ende des Jahrzehnts in der Lage sein, ein menschliches Genom für nur 1 USD zu entschlüsseln. Laut George Church, Professor an der Harvard Medical School, könnte der erste Versuch am Menschen, die Zellalterung mithilfe von CRISPR-basierten Gene-Editing-Therapien umzukehren, in den nächsten zwei Jahren beginnen. Wenn wir länger leben, wird sich auch unser Verhältnis zur Zeit ändern. Wir werden gezwungen sein, den Klimawandel ernster zu nehmen und anders über die Rente (und Beziehungen) nachzudenken.

Die Zukunft ernst zu nehmen, wird manche Leute ihren Job kosten. Sie nicht ernst zu nehmen, wird uns alle unseren Job kosten.

Ein chinesisches Sprichwort besagt: „Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.“ Technischer Fortschritt kann aufregend und angsteinflössend sein, mitunter sogar schmerzhaft. Doch nur, wenn wir unsere Ärmel hochkrempeln und die Veränderung mit offenen Armen willkommen heissen, können wir uns fit für die Zukunft machen und den Lohn für den Generationenwechsel einfahren. Die Zukunft ernst zu nehmen, wird manche Leute ihren Job kosten. Sie nicht ernst zu nehmen, wird uns alle unseren Job kosten. Es liegt ganz bei Ihnen.