Das Ende des Klimadiktats in der Landwirtschaft

In einem IT-Labor in Boston wird an der Zukunft unserer Lebensmittel gefeilt.

red and blueberries

Ein Computerlabor des Massachusetts Institute of Technology wirkt zunächst einmal nicht wie der ideale Ort, um Obst und Gemüse anzubauen. Doch genau dort arbeitet ein Team von Programmierern mit Farmer-Ambitionen an einem Projekt, das die Landwirtschaft revolutionieren könnte.

Mithilfe von Big Data will die Initiative Open Agriculture (OpenAg) des MIT die optimalen Anbaubedingungen für Obst, Gemüse und andere Pflanzen ermitteln. Das Team analysiert riesige Datenmengen aus der ganzen Welt und bündelt die Ergebnisse auf einer Online-Plattform, die die Qualität von Lebensmitteln verbessern, die Landwirtschaft nachhaltiger machen und den Anbau von Lebensmitteln näher zum Verbraucher bringen könnte – insbesondere den Verbrauchern, die in Städten leben.

„Wir wollen das Klima als Werkzeug nutzen und verstehen den Planeten als einen Katalog mit verschiedenen Klimata“, sagt Caleb Harper, Leiter von OpenAg. „Wir sind davon überzeugt, dass es mithilfe der Daten, die wir sammeln, an jedem Ort der Welt – auch in Lagerhallen mitten in der Stadt – möglich sein wird, unter Laborbedingungen bestimmte Klimata und Umgebungen zu schaffen, die zum Anbau von Obst und Gemüse genutzt werden können und gleichzeitig den Geschmack und den Nährwert der Produkte verbessern.“

„Im Kern unserer Arbeit geht es um die Demokratisierung des Klimas... Die moderne Landwirtschaft steht unter einem Klimadiktat: Das Klima gibt vor, wo auf der Welt Pflanzen angebaut werden können, und erzeugt so den enormen internationalen Handel mit Lebensmitteln.“

Die Daten von OpenAg werden auf einer Crowdsourcing-Plattform öffentlich zur Verfügung gestellt. Die Nutzer können digitale „Klimarezepte“ herunterladen. Dabei handelt es sich um Computerskripte, die von anderen programmiert wurden und bestimmte Umweltbedingungen – Wasser, Temperatur, Lichtintensität usw. – enthalten. Damit können die Nutzer Umweltbedingungen reproduzieren, die bereits erfolgreich waren, und so an jedem beliebigen Ort der Welt ein optimales Pflanzenwachstum erreichen. Eigene Erkenntnisse können ebenfalls hochgeladen werden.

Auf der 6 Quadratmeter grossen Anbaufläche von OpenAg im MediaLab des MIT kommen erdelose Anbaumethoden wie die Aeroponik zum Einsatz, bei der die Wurzeln von Pflanzen wie Brokkoli und Erdbeeren frei in einem Nebel aus Wasser, Mineralien und Sauerstoff hängen. Dies spart Wasser und die Pflanzen wachsen vier- bis fünfmal schneller als im erdbasierten Anbau. Auf diese Weise erzeugt das Projekt genügend Lebensmittel, um einmal im Monat rund 300 Personen zu versorgen.

Vierte landwirtschaftliche Revolution  

Harper ist überzeugt, dass diese Technologie die Landwirtschaft nachhaltig verändern wird. Bisher, so Harper, hat die Landwirtschaft drei Revolutionen erlebt: Die erste bestand im Anbau von Lebensmitteln, der den Grundstein für die Bildung von Gesellschaften legte. Die zweite war die Mechanisierung, die die Entstehung und Versorgung von Städten möglich machte. Die dritte ging von der Biotechnologie aus, die im Zuge des weltweiten Bevölkerungswachstums die Produktivität steigerte.

Nun steht der Landwirtschaft die vierte Revolution bevor: die Demokratisierung des Klimas, oder anders ausgedrückt, der Prozess, der dazu führen wird, dass jeder Mensch an jedem Ort die Möglichkeit bekommt, geeignete Klimabedingungen zu schaffen und damit bessere und nahrhaftere Lebensmittel anzubauen.

Der Digitalisierung schreibt er dabei die Schlüsselrolle zu.

„Stellen Sie sich vor, wir könnten einen Apfel nehmen, ihn irgendwie digitalisieren, durch die Luft in die Nähe des Verbrauchers schicken und ihn dort wieder materialisieren. Dabei geht es nicht nur um die Genetik von Pflanzen, also ihre Genome: Es geht auch um ihre Phänome – wie sie auf Phänomene reagieren, die Einfluss auf ihre Genome haben, wie zum Beispiel Stress durch das Wetter, den Boden und andere Umweltfaktoren.“

Stellen Sie sich vor, wir könnten einen Apfel nehmen, ihn digitalisieren, zum Verbraucher schicken und ihn dort wieder materialisieren.
cotton in a field

Und die Digitalisierung der Landwirtschaft macht bei Obst und Gemüse nicht Halt. Baumwolle ist eine weitere Pflanze, deren Qualität von Klima und Umwelt bestimmt wird. OpenAg wurde von indischen Baumwollzüchtern um Hilfe gebeten, deren Ackerland von sinkenden Grundwasserspiegeln betroffen war, was die Qualität und Konsistenz der Pflanzen bedrohte. Nachdem das Team die verschiedenen Baumwollpflanzen auf der Welt untersucht hatte, wurde eine isländische Sorte als die am besten geeignete ausgewählt, um eine neue Sorte zu züchten, die mit den Klima- und Umweltbedingungen in Indien zurechtkommt.

Harper hofft, dass es mit solchen Ansätzen langfristig gelingen wird, die Lebensmittelindustrie nachhaltiger zu gestalten. 

Die Lebensmittelproduktion, so Harper, ist unter anderem deshalb zu einem ökologischen Problem geworden, weil sie zu stark zentralisiert und damit zu weit vom Verbraucher entfernt ist. Nur 2 Prozent der US-Bevölkerung sind im Landwirtschaftssektor des Landes tätig, beklagt er. 

Wenn es der OpenAg-Initiative gelänge, die Landwirtschaft in den urbanen Raum zu transportieren, könnten damit eine Milliarde zusätzliche Bauern zur Verfügung stehen. Die Gesellschaft könnte mehr Lebensmittel produzieren, die darüber hinaus auch noch besser schmecken und mehr Nährstoffe enthalten, so Harper. Für den Planeten kann dies nur von Vorteil sein.