Natürliche Heilung für Alzheimer?

Warum Spinnweben der Schlüssel zur Heilung der altersbedingten Hirnerkrankung sein könnten

Egal ob antikes Papier, luxuriöse Kleidung oder Fallschirme – schon seit Tausenden von Jahren schätzt der Mensch die Seide für ihre aussergewöhnliche Stärke, Leichtigkeit und Glätte.

Nun stehen Wissenschaftler kurz davor, sich ihre besonderen Eigenschaften in völlig anderer Form zunutze zu machen: zur Behandlung von Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson.

Forscher am Weizmann-Institut für Wissenschaften in Israel haben herausgefunden, dass die Seidenfasern von Spinnweben und den Kokons der Seidenraupe in ihrer Struktur grosse Ähnlichkeit mit den zellschädigenden Proteinablagerungen – den Amyloiden – haben, die sich im Gehirn von Personen mit Alzheimer bilden.

Amyloide sind verantwortlich für die Produktion von toxischen Plaques, die die Hirnzellen angreifen. Dr. Ulyana Shimanovich, leitende Forscherin am Weizmann-Institut, möchte mit ihren Untersuchungen nun jedoch herausfinden, ob sich diese Proteine in Biomaterialien umwandeln lassen, die stattdessen eine heilende Wirkung auf die Zelle haben.

„Bei neurodegenerativen Erkrankungen neigen diese Proteine dazu, sich zusammenzuschliessen und Fasern zu bilden. Ein ähnlicher Aggregrationsprozess ist auch bei Seide zu beobachten“, erklärt Dr. Shimanovich.

Dr. Shimanovich und ihr Team haben bereits ermitteln können, was diesen Mutationsprozess bei Seide auslöst. Für die Veränderungen, so das Ergebnis, ist das Tier verantwortlich, das die Seide spinnt, ganz egal ob Spinne oder Seidenraupe.

Die nächste Aufgabe besteht nun darin herauszufinden, was bei den im Gehirn gebildeten Proteinen ähnliche Strukturveränderungen hervorruft.

„Wir versuchen zu verstehen, wie es möglich ist, dass die Natur den gleichen Mechanismus für die Produktion von ähnlichen Fasern einsetzt, diese Fasern jedoch völlig unterschiedliche Auswirkungen auf lebende Zellen haben“, erklärt sie.

Und die Lösung dieses Rätsels drängt: Weltweit leiden 47 Millionen Menschen an Demenz, was jährlich Kosten in Höhe von schätzungsweise 605 Milliarden USD verursacht. Da die Erkrankung aufgrund der immer älter werdenden Weltbevölkerung stark auf dem Vormarsch ist, wird sich die Zahl der Betroffenen Prognosen zufolge bis 2050 nahezu verdreifachen.

Zwar hat das Team von Dr. Shimanovich herausgefunden, dass die von Seidenraupen produzierten Seidenproteine die Produktion von Amyloid-Plaques stoppen können, doch dies ist nur der erste Schritt eines langen und schwierigen Entwicklungsprozesses.

Bereits gebildete Amyloidablagerungen zerstört das Protein nicht.

Spinnen und Seidenraupen werden für dieses Problem keine Lösung liefern können – dafür vielleicht Lamas und Kamele.

Denn diese Tiere verfügen über spezielle Antikörperfragmente, sogenannte Nano-Antikörper, die in der Lage sind, die voll entwickelten Fasern zu zerstören. Diese Stoffe könnten auch im Kampf gegen neurodegenerative Erkrankungen beim Menschen effektiv eingesetzt werden.

Ein Problem dabei ist, dass diese Nano-Antikörper in der Natur ihre Wirkung verlieren, wenn sie warmen und sauren Bedingungen ausgesetzt sind. Genau unter diesen Bedingungen bilden sich jedoch die Amyloide. Glücklicherweise kann Seide hier Abhilfe schaffen, indem sie die Nano-Antikörper in Form einzelner Moleküle stabilisiert, erklärt Dr. Shimanovich.

Im Reagenzglas hat dieses Verfahren bereits funktioniert: mit direkt aus der Drüse der Seidenraupe gewonnenen Seidenproteinmolekülen und Nano-Antikörpern, die auf Basis des genetischen Code der Lamas und Kamele von genetisch veränderten E.-coli-Bakterien produziert wurden.

Der daraus entstandene Komplex aus Seide und Nano-Antikörpern wurde dann in die endgültigen Partikel umgewandelt und an den entsprechenden Amyloiden getestet.

„Wir testen unsere Partikel an menschlichen Zellen, doch das ist nicht das Gleiche wie der menschliche Körper als Ganzes. Der Prozess in lebenden Organismen ist viel komplexer“, sagt Dr. Shimanovich. „Die grösste Herausforderung stellen nun die Wechselwirkungen innerhalb des lebenden Organismus dar. Die Bedingungen sind von Zelle zu Zelle unterschiedlich. Diese ganze Dynamik müssen wir berücksichtigen.“

Ausserdem müssen die Forscher am Weizmann-Institut noch herausfinden, an welchem Punkt das Mittel angewendet werden muss, um eine maximale Wirkung zu erzielen, und ihre Formel so anpassen, dass sie der Tatsache Rechnung trägt, dass sich je nach Art der Nervenkrankheit leicht unterschiedliche fibröse Proteinablagerungen bilden.

Wenn dies gelingt, könnte damit ein grosser Schritt hin zur Entwicklung neuer Therapien auf Nano-Ebene getan sein, zum Beispiel von Mikroreaktoren, die zeitverzögert Wirkstoffe abgeben, oder von Nano-Fibrillen, deren antibakterielle Eigenschaften zur Bekämpfung von Infektionen genutzt werden könnten.

Wahrscheinlich wird noch ein Jahrzehnt vergehen, bis die Lösung so weit optimiert – und getestet – wurde, dass sie beim Menschen angewendet werden kann. Doch wenn sich die Methode bewährt, könnte das Know-how von Seidenraupen und Lamas das Leben von Millionen von Menschen verlängern und die Kosten im Gesundheitswesen drastisch reduzieren.