Mehr als menschlich: Neuroengineering für ein gesünderes Leben

Neuroengineering ist eine Chance, das Leiden von einer Milliarde Menschen auf der Welt mit neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen zu lindern.

Die Fähigkeit, Mensch und Maschine nahtlos miteinander zu verbinden, gab es früher nur in Science-Fiction-Romanen, doch das ist nun nicht mehr so. Technologien, die sich die elektrischen Eigenschaften des menschlichen Gehirns zunutze machen, könnten solche futuristischen Visionen bald Realität werden lassen.

Die Entwicklung auf dem Gebiet des Neuroengineering, einer Gruppe zukunftsweisender Verfahren, bei denen die Neurowissenschaft – die analysiert, wie die Neuronen des Gehirns arbeiten, um Gedanken und Handlungen auszulösen – mit Elektrotechnik oder physikalischen Gesetzen in Verbindung gebracht wird, schreitet rasch voran.

Neuroengineering-Wissenschaftler sind die Elektro-Ingenieure, die die Schaltkreise des menschlichen Gehirns und des Nervensystems von Fehlern befreien und neu verkabeln, um Optimierungsmaßnahmen zu identifizieren und vorzunehmen oder elektrische Geräte wie Prothesen anzuschließen, um die Funktionalität zu verbessern.

Schon heute hilft ihr Wissen Patienten mit motorischen Beeinträchtigungen.

Seinen Ursprung nahm das Neuroengineering in den 1980er Jahren, als detaillierte Untersuchungen des Innenohrs zur Entwicklung der Cochlear-Implantate führten, die es seither über 300.000 schwerhörigen Menschen ermöglicht haben, wieder etwas zu hören.

Nach einem weiteren Jahrzehnt wurde mit der Tiefenhirnstimulation (Deep Brain Stimulation, DBS) eine Technik entwickelt, die zwar noch nicht vollständig erforscht ist, von der jedoch schon mehr als 100.000 Menschen mit Parkinson, Dystonie, essentiellem Tremor und sogar Tourette-Syndrom sowie Zwangsstörungen profitiert haben.

Bei der Tiefenhirnstimulation werden Elektroden im Gehirn implantiert und unter der Haut an ein Schrittmacher-ähnliches Gerät mit der Bezeichnung "Neurostimulator" angeschlossen, das unter dem Schlüsselbein angebracht wird. Das System bewirkt eine elektrische Stimulation bestimmter Hirnareale, um anormale Nervensignale zu blockieren.

Das Neuroengineering scheint derzeit in eine neue Ära der Innovation einzutreten.

Die neueste Entwicklung, die aktuell die Phantasie der Mediziner beflügelt, ist das bionische Auge. Bislang sind nur einige wenige Retina-Implantate auf dem Markt verfügbar, doch wurde das von dem Institut Second Sight in den USA entwickelte 150.000-US-Dollar-System "Argus II" weltweit schon mindestens 150 Mal in die Augen sehbehinderter Menschen implantiert.

Von außen besteht das System aus einer kleinen Kamera, die in einer Sonnenbrille versteckt und mit einem tragbaren Computer verbunden ist. Die Bilddaten werden drahtlos an ein implantiertes Mikroelektrodenfeld auf der Retina des Patienten übertragen. Nachdem sie gelernt haben, die neuen Signale zu interpretieren, geben die Patienten an, Bücher in großer Schrift zu lesen, allein die Straße zu überqueren und sogar Bilder von ihren Verwandten erkennen zu können.

Auch für Menschen mit neurologischen Erkrankungen, die eine eingeschränkte Bewegungsfähigkeit bestimmter Körperteile (oder des gesamten Körpers) mit sich bringen, bedeutet das Neuroengineering immer häufiger Besserung. Dazu gehören die amyotrophe Lateralsklerose, das Locked-in Syndrom nach Schlaganfall und Rückenmarksverletzungen.

Da eine physisch ausgeübte Handlung eine ähnliche Hirnaktivität auslöst wie jene, die man sich lediglich vorstellt, müssen Patienten in experimentellen Studien der Gehirn-Computer-Schnittstelle nur an einen Befehl denken, damit dieser ausgeführt wird.

Dieser Prozess verläuft folgendermaßen. Ein Patient stellt sich vor, dass er den Arm bewegt. Die physische Manifestation dieses Gedankens – ein elektrischer Impuls – fließt vom Gehirn zu den Sensoren, die innerhalb oder außerhalb der Großhirnrinde implantiert sind. Die Sensoren rechnen die Signale in Binärcode um, der in einen mechanischen Roboterarm eingespeist wird. Der Arm hebt sich.

Interventionen wie diese ermöglichen Patienten, die durch schwere motorische Beeinträchtigungen gelähmt sind, die Kommunikation mit der Außenwelt.

Der Wirkungsbereich des Neuroengineering geht jedoch über körperliche Funktionen hinaus. Wissenschaftler glauben, dass irgendwann auch eine Umkehrung des Gedächtnisverlustes bei Krankheiten wie der Alzheimer-Krankheit möglich sein könnte.

Dheeraj Roy, Neurowissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology, untersucht den Gedächtnisverlust bei Mäusen mit Alzheimer.

Im Zuge einer Untersuchung, deren Ergebnisse im letzten Jahr in der Zeitschrift "Nature" veröffentlicht wurden, entdeckte Roy, dass durch die Anwendung von Neuroengineering-Verfahren einige Tiere ihr verlorenes Gedächtnis teilweise zurückerlangen konnten.

Neuroengineering könnte irgendwann eine Umkehrung des Gedächtnisverlustes bei Krankheiten wie der Alzheimer-Krankheit möglich machen.

"In Versuchen an Mäusen mit Alzheimer im Frühstadium konnten wir am Vortag gebildete Gedächtnis-Engramm-Zellen stimulieren, die mit der Lernerfahrung "Hier ist es unheimlich!" verbunden waren. Die Mäuse waren in der Lage, diese verloren geglaubte Erinnerung wieder abzurufen," erklärt er.

Auf dem derzeitigen Stand wäre es jedoch nicht möglich, das von ihm und seinen Kollegen verwendete Verfahren (die sogenannte Optogenetik) auch bei Menschen einzusetzen. Das ist so, weil bei der Optogenetik ein lichtempfindliches Protein künstlich in die Gehirnzellen eingebracht werden muss. Dies erfolgt über einen Virus. "Die Virusinfektion und die Notwendigkeit hochinvasiver Implantate sind die wesentlichen Barrieren dafür, dass der Ansatz direkt auf Patienten übertragen werden kann", so Roy.

Er bleibt jedoch zuversichtlich, dass dieser Durchbruch eine neue Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der Alzheimer-Krankheit anstoßen und schließlich zur Entwicklung neuer Therapien führen wird: "Wir hoffen, dass die Wissenschaft in Zukunft besser übertragbare Verfahren hervorbringen wird."

  1. Professor Silvestro Micera - "Wir wollen es richtig machen"

     

    Silvestro Micera von der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) in der Schweiz erforscht das translationale Neuroengineering an vorderster Front. Hier gewährt er uns einen Einblick, wie er das Leben von Amputationspatienten durch die Entwicklung eines bionischen Arms zu verbessern hofft.

    Warum ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um uns mit Neuroprosthetik zu beschäftigen?

    Dies ist eine sehr wichtige Zeit für Neuroprosthetik. Wir haben schon Cochlear-Implantate, Tiefenhirnstimulation und visuelle Prothesen, um die Sehkraft wiederherzustellen – es gibt also schon eine ganze Menge klinisch bedeutender und wertvoller Lösungen. In den nächsten zehn Jahren werden jedoch noch mehr Patienten von Technologien dieser Art profitieren.

    2014 wurden Sie berühmt, weil sie dem Amputierten Dennis Aabo Sørensen mit einer "fühlenden Hand" den Tastsinn zurückgaben. Wie kommt er mit dem Gerät zurecht?

    In einem nächsten Schritt wollten wir zeigen, dass es möglich ist, über in seinen Oberarm implantierte Elektroden Informationen über die Beschaffenheit unterschiedlicher Muster oder Objekte zu liefern, die er berührte.

    Leider mussten wir Herrn Sørensen die Elektroden am Ende der Experimente entfernen, aber wir sind ihm dankbar, weil er uns geholfen hat zu verstehen, was wir im Bereich computergesteuerter implantierbarer Geräte noch tun können, um Patienten langfristig zu helfen.

    Warum sind Sinnesinformationen so wichtig für Dennis Aabo Sørensen und andere Prothesennutzer?

    Umfragen bei Amputationspatienten ergeben durchweg, dass das Fehlen sensorischer Informationen das größte Problem darstellt. Je erfolgreicher sie natürliche oder quasi-natürliche Informationen liefern können, desto zufriedener wird der Nutzer mit der Prothese sein, und desto eher wird sie der Patient oder die Patientin als Teil des eigenen Körpers akzeptieren können.

    Wie geht es weiter mit Ihren Neuroprothesen?

    Im nächsten Schritt wollen wir ein Langzeitimplantat entwickeln, das nicht wie bei Dennis Aabo Sørensen nur vier Wochen hält, sondern Monate und schließlich Jahre. Wir beschäftigen uns mit Robotik auf dem Gebiet der Neurorehabilitation nach Schlaganfällen, und wir arbeiten daran, die Rückenmarkstimulation zu kontrollieren, um die Fähigkeit zur Fortbewegung bei Menschen mit Querschnittslähmung wiederherzustellen.

    Was ist das größte Hindernis für einen klinischen Einsatz ihrer Technologien?

    Es ist ein gewaltiger Aufwand an Geld und Zeit vonnöten, denn schließlich will man natürlich etwas bewegen für die Patienten, die - das liegt in der Natur der Sache - äußerst fragil sind.

    Es ist ein wenig frustrierend, dass manchmal alles so lange dauert, aber es macht Sinn, weil wir es richtig machen wollen.