Robo-Chirurgen auf dem Vormarsch

Die Roboterchirurgie verkörpert eine der grössten Revolutionen der Medizin und stellt Patienten bessere Ergebnisse und eine schnellere Genesung in Aussicht.

Die Konsole sieht aus, als könnte man damit das Periskop eines U-Boots steuern, vielleicht auch ein brandneues Videospiel. Ein gepolsterter Stuhl steht vor etwas, das an die VR-Brille Oculus Rift erinnert. Im Fussbereich sind gut erreichbar mehrere Pedale angebracht. Die Joysticks verfügen über Halterungen für Daumen und Zeigefinger. Um die Maschine zu starten, muss lediglich die Stirn an das bequeme Druckpolster gelegt werden, das sich direkt über dem Okular befindet.

Doch das hier ist kein Spielzeug. Bei diesem Gerät geht es um Leben und Tod – und zwar ganz wortwörtlich. Mit dieser Steuerkonsole des Da-Vinci-Systems werden von der Ferne verschiedene chirurgische Instrumente, Kameras und Roboterarme bedient, die sich in einem anderen Teil des Raums befinden. Wir befinden uns in einer Schulungsveranstaltung. Die Teilnehmer beobachten das Operationsfeld – eine Gummiversion der menschlichen Eingeweide – in 3D.

Die Joysticks bewegen eine Zange aus Metall. In nur einer Minute haben die Teilnehmer gelernt, Gummibänder um unterschiedlich gefärbte Gummistäbe zu legen. Noch eine Minute später können sie die Gummiringe miteinander verknoten. Der Bewegungsbereich und die Sensibilität der Zange sind verblüffend.

Beim Gang von der Konsole hinüber zum Roboter auf der anderen Seite des Raums wird klar, dass das anatomische Modell aus Gummi, an dem die Teilnehmer geübt haben, in Wirklichkeit winzig klein ist. Das System hat alles um das Zehnfache vergrössert. Tatsächlich sind die grossen Gummiringe, die mit der Zange des Roboters bearbeitet wurden, kleiner als der Durchmesser eines Bleistifts. Und plötzlich fällt es nicht mehr schwer zu verstehen, warum OP-Roboter wie das Da-Vinci-System die Zukunft der Chirurgie verkörpern.

Robo-Chirurg? Noch nicht ganz

Genau genommen sollte jedoch nicht von Roboterchirurgie, sondern von roboterassistierter Chirurgie gesprochen werden. Denn der Chirurg behält dabei die volle Kontrolle. Der Roboter bietet lediglich eine alternative Möglichkeit, um mit den erforderlichen chirurgischen Instrumenten in die oft engen oder schwer erreichbaren Regionen des Körpers vorzudringen. Echte Roboterchirurgie – mit autonom agierenden Robotern – existiert noch nicht. Doch sie wird kommen, sagt Professor Philippe Morel, Chefarzt der Abteilung für Viszeralchirurgie am Universitätsspital Genf. Schon die heutigen Robotiksysteme sind jedoch revolutionär und helfen Chirurgen, bessere Ergebnisse für ihre Patienten zu erzielen.

„4.000 Jahre lang ist die Chirurgie im Grossen und Ganzen unverändert geblieben. Die Instrumente, die damals eingesetzt wurden, haben immer noch Ähnlichkeit mit den Instrumenten, die wir heute einsetzen“, sagt Prof. Morel. Bis zur Entwicklung der Laparoskopie bzw. Schlüssellochchirurgie in den 1980er Jahren stammten die grössten chirurgischen Innovationen der letzten Jahrtausende aus den Bereichen Schmerzlinderung und Infektionsprävention.

Robotiksysteme sind revolutionär und helfen Chirurgen, bessere Ergebnisse für ihre Patienten zu erzielen.

Hinzukommt, dass die Schlüssellochchirurgie selbst in gewisser Weise ein Rückschritt war, sagt Prof. Morel. Sie bietet den Patienten zwar Vorteile wie eine geringere Narbenbildung – bei der Schlüssellochchirurgie wird nur über einen oder mehrere kleine Einschnitte operiert – und einen geringeren Blutverlust und eine schnellere Genesung als bei offenen Eingriffen, doch die minimalinvasiven Verfahren sind oft schwierig durchzuführen.

Zum einen ist das Sichtfeld, das standardmässige laparoskopische Kameras bieten, deutlich schmaler als bei offenen Operationen. Zum anderen sind die langstieligen Instrumente, die dabei zum Einsatz kommen, unhandlich und schränken die Beweglichkeit stark ein.  „Es ist, als würde man mit Stöcken operieren“, erklärt Prof. Morel.

Erste Versuche, Roboterarme zu Operationszwecken einzusetzen, wurden in den 1990er Jahren unternommen. Einige Systeme waren schlecht konzipiert, so etwa eines, dessen Operationsinstrumente sich in die entgegengesetzte Richtung der Hände des Chirurgen bewegten. Doch mit zunehmender Weiterentwicklung der Systeme wurden die Vorteile deutlich, die sie sowohl gegenüber der Schlüssellochchirurgie als auch gegenüber traditionellen offenen Operationen bieten. Mit dem Da-Vinci-System beispielsweise sind die Chirurgen dank zwei laparoskopischer Kameras in der Lage, räumlich zu sehen, und die winzigen chirurgischen Instrumente an den vier Roboterarmen sind darüber hinaus flexibler und beweglicher als die menschliche Hand.

Erfahrungen auf beiden Seiten des Robo-Skalpells

Dass Prof. Morel die Roboterchirurgie befürwortet, liegt in den Erfahrungen begründet, die er auf beiden Seiten des Skalpells gemacht hat. 2009 entfernten Chirurgen mithilfe eines Robotiksystems seine Prostata. Das Ergebnis, so Morel, seien eine schnellere Genesung, ein kürzerer Aufenthalt im Krankenhaus und weniger Beschwerden gewesen.

Als Chirurg hat er sich auf Eingriffe im Bauchraum spezialisiert und schätzt die Flexibilität, die ihm die Roboterchirurgie in beengten Räumen wie etwa tief im Becken bietet. Kein Wunder also, dass die Roboterchirurgie mit Begeisterung für gynäkologische Eingriffe und Operationen an den Harnwegen übernommen wurde.

Insgesamt sind weltweit fast 4.000 Da-Vinci-Systeme im Einsatz, rund zwei Drittel davon in den USA. Die Zahl der durchgeführten roboterassistierten Eingriffe ist in den vergangen zwei Jahrzehnten jedes Jahr um etwa 15 Prozent gestiegen. Prognosen von Allied Market Research zufolge wird der Markt für OP-Roboter sein Volumen zwischen 2014 und 2020 auf 6 Milliarden USD verdoppeln.¹ Die Nachfrage wird vermutlich weiter steigen, da die Vertrautheit mit Robotiksystemen unter den Chirurgen wächst und regelmässig neue Innovationen vorgestellt werden. Dazu zählen Bündel von winzigen, schlangenartigen Robotikinstrumenten, die in dünne Schläuche eingebettet sind und über natürliche Körperöffnungen zu Zielpunkten tief im Körper von Patienten geführt werden können. Beim Da-Vinci-System ist es gelungen, drei Instrumente und eine Kamera – alle jeweils unabhängig voneinander bedienbar und mit einem grossen Bewegungsbereich ausgestattet – in einem Schlauch mit einem Durchmesser von nur 12 Millimetern unterzubringen.

Eine weitere Verbesserung sind duale Konsolen, die es Chirurgen ermöglichen, zeitgleich mit Organspezialisten zu operieren. Bisher mussten sie sich während des Eingriffs an der Konsole abwechseln.

VR ist Trumpf

Ergänzend werden Virtual-Reality-Systeme (VR-Systeme) entwickelt, mit denen radiologische Aufnahmen von Organen der Patienten über das Bild gelegt werden können, das die Kameras zeigen. Dadurch wären Chirurgen praktisch in der Lage, durch Schichten wie Fettgewebe hindurchzusehen, die ihnen sonst den Blick auf das zugrunde liegende Problem versperren. Darüber hinaus könnte es die VR den Chirurgen ermöglichen, Gewebeentfernungen mit grösserer Genauigkeit zu planen, etwa um sicherzustellen, dass ein Tumor vollständig entfernt wird, gleichzeitig aber möglichst viel gesundes Gewebe erhalten bleibt. Der aktuelle Ansatz besteht in der Regel darin, auf Nummer sicher zu gehen, was oft bedeutet, dass deutlich grössere Schnitte gemacht werden, als wünschenswert ist.

„Augmented Reality wird Chirurgen helfen, richtig zu navigieren“, sagt Prof. Morel.

Doch damit diese VR-Technologie wirklich effektiv eingesetzt werden kann, müsste sich das projizierte Bild dynamisch an die Bewegungen des Organs anpassen, wenn sich dieses unter dem Messer des Chirurgen verlagert und verschiebt. Irgendwann könnten die chirurgischen Instrumente mit eigenen Sensoren ausgestattet sein: Gewebe kann viele Hinweise geben, beispielsweise über die Temperatur und die Versorgung mit Sauerstoff.

Dank solcher Entwicklungen, erklärt Prof. Morel, könnten die Instrumente den Chirurgen direkt mit Informationen versorgen.

Das ist eine der derzeitigen Schwachstellen der Roboterchirurgie: das fehlende haptische Feedback, also der fehlende Tastsinn. Von seinem Platz an der Konsole aus kann ein Chirurg nicht fühlen, wie viel Widerstand ein Gewebe bietet. Um Knorpel oder Knochen zu nähen, muss Prof. Morel die Konsole verlassen und die chirurgischen Instrumente selbst in die Hand nehmen. Doch früher oder später werden Robotiksysteme auch ein solches haptisches Feedback liefern können – einige neue Systeme gehen bereits in diese Richtung.

Gefühlsarmut

Doch bis dahin kann dieser Mangel an sensorischen Informationen zu Problemen führen. Viele der Verletzungen, die Patienten bei roboterassistierten Eingriffen erleiden, entstehen, wenn Instrumente das Sichtfeld des Chirurgen verlassen und danach weiter bewegt werden. Ohne ein Gefühl dafür, wie viel Widerstand das Gewebe bei einer Bewegung bietet, kann es passieren, dass Chirurgen dabei Risse in Geweben oder Blutgefässen verursachen. Das kann in vielerlei Hinsicht schwere Folgen haben. In den USA sind 4.000 Gerichtsverfahren anhängig, in denen es um mutmassliche Verletzungen durch OP-Roboter geht.

Doch das ist nicht die Schuld des Roboters.

„Das Gefährlichste für die Patienten ist der Faktor Mensch: der Chirurg“, sagt Prof. Morel. „Der Patient ist der Stimmung des Chirurgen ausgeliefert – vielleicht ist er müde oder steht unter Zeitdruck.“

Dabei ist es egal, ob die Chirurgen das Skalpell in den eigenen Händen halten oder mit der Hilfe eines Roboters operieren. Roboter können Operationen letztlich sicherer machen. „Eine geringere Abhängigkeit von menschlichen Faktoren wird das Risiko bei Operationen deutlich senken“, sagt er.

Doch vieles hängt von der richtigen chirurgischen Ausbildung ab. So sei es zum Beispiel bei den mehr als 2.000 roboterassistierten Eingriffen, die am Genfer Universitätsspital durchgeführt wurden, noch zu keinem einzigen grösseren Zwischenfall gekommen, so Prof. Morel. Die Chirurgen werden inzwischen in der Anwendung von Robotiksystemen ausgebildet und zertifiziert. Für kompliziertere Eingriffe werden zusätzliche Schulungsprogramme für Fortgeschrittene angeboten.

Ein wesentlicher Nachteil der Robotiksysteme sind jedoch ihre Kosten. Das System selbst kostet zum Beispiel 1,5 Millionen CHF. Hinzukommen jährliche Wartungsgebühren in Höhe von 100.000 CHF, die Instrumente schlagen mit 150 CHF pro Anwendung zu Buche. Auf der anderen Seite der Rechnung stehen eine geringere Komplikationsrate und kürzere Krankenhausaufenthalte. Und mit zunehmender Verbreitung der OP-Roboter könnten die Kosten – wie es bei technischen Neuerungen bisher immer der Fall war – durch Skaleneffekte und stärkeren Wettbewerb sinken. Mit anderen Worten: Der Robo-Chirurg wird uns so schnell wohl nicht mehr von der Seite weichen.

¹Allied Market Research, „Surgical Robotics Market by Component (Systems, Accessories, Services) and Surgery Type (Gynecology , Urology, Neurosurgery, Orthopedic, General) – Global Opportunity Analysis and Industry Forecast, 2014 – 2020“