Ein Plan gegen die vergessene Krise der Welt

Die Biodiversität der Süsswassersysteme ist ernsthaft bedroht. Was die Welt jetzt braucht, ist ein Notfallplan.

Lassen Sie sich einmal auf das folgende Gedankenexperiment ein. Stellen Sie sich vor, die grossen Aktienmärkte der Welt hätten vier Fünftel an Wert verloren.

Fragen Sie sich nun: Würden die Regierungen tatenlos zusehen und nichts unternehmen, um diesen Absturz umzukehren?

In einer Zeit, in der sich globale Notlagen zunehmend verschärfen, ist dies eine höchst relevante Frage, vor allem, da wir 2020 vielleicht zum letzten Mal die Chance haben, das Ruder noch herumzureissen. Doch trotz des Ausmasses der Klimakrise und der Bedrohung der Artenvielfalt gibt es einige Entwicklungen, die Mut machen. Die Klimaproteste weiten sich aus. Fridays for Future, Extinction Rebellion und Anti-Plastik-Kampagnen sind in den Schlagzeilen. Die EU hat sich zu einem Green Deal verpflichtet. Die Natur ist im Gespräch wie niemals zuvor.

Doch eines der grössten Umweltprobleme überhaupt hat bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit erlangt: die katastrophale Zerstörung der Süsswasser-Artenvielfalt und -Ökosysteme, die unsere Lebensgrundlage bedroht.

Dem Living Planet Index (LPI) des WWF zufolge sind in den letzten 50 Jahren die Bestände im Süsswasser lebender Arten um 83 Prozent geschrumpft. Der LPI ist im Grunde ein Aktienmarktindex, der sich allerdings auf Wildtierbestände und nicht auf Aktienkurse bezieht.

Das ist ein schockierend rasanter Rückgang, mehr als doppelt so schnell wie alles, was wir an Land oder im Meer beobachten. Grosse Süsswasserarten wie Flussdelphine, Biber, Krokodile und der Stör sind sogar noch stärker betroffen: Hier verschwanden mehr als 88 Prozent der Tiere. Nach jetzigem Stand könnte mehr als ein Viertel aller im Süsswasser lebenden Arten (darunter ein Drittel aller Süsswasserfische) aussterben.

Gleichzeitig wurden in diesem halben Jahrhundert gut 30 Prozent unserer verbliebenen Süsswasserökosysteme zerstört – Ökosysteme, die lange Zeit unterschätzt und ignoriert wurden, die uns jedoch Wasser und Nahrung liefern, den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft in der Region stützen und uns Schutz vor Überschwemmungen, Dürren und Stürmen bieten.

Die steil nach unten zeigende Entwicklung bei den Süsswasserarten und -lebensräumen begann bereits vor unserer Geburt. Unsere Versuche, Alarm zu schlagen, sind sowohl im Bereich des Naturschutzes als auch des Wassermanagements weitestgehend auf taube Ohren gestossen. Unsere Initiativen zur Verlangsamung des Rückgangs haben lokal Erfolge erzielt, konnten am globalen Trend jedoch kaum etwas ändern. Nun bleibt nur noch sehr wenig Zeit, um die Entwicklung umzukehren und dafür zu sorgen, dass sich die Bestände der Süsswasserarten wieder erholen.

Doch das müssen wir schaffen. Für die Natur, aber auch für uns selbst.

Ohne gesunde Flüsse und Feuchtgebiete werden wir nicht genügend Trinkwasser und Nahrung zur Verfügung haben und Millionen von Menschen, insbesondere in ärmeren Ländern, werden auf wichtige (und oft kostenlos verfügbare) Nährstoffe aus dem Süsswasser-Fischfang verzichten müssen. In Zeiten der sich verschärfenden Klimakrise können naturbelassene Flüsse und gesunde Feuchtgebiete – wie Moore, Mangroven, Sümpfe und Torflandschaften – zudem die Auswirkungen von Extremwetterereignissen abschwächen, die immer stärker und häufiger auftreten: Sie tragen dazu bei, extreme Überflutungen aufzufangen und zu verlangsamen, sie dienen als Wasserreserve für Dürrezeiten und als Puffer zwischen Städten und dem steigenden Meeresspiegel.

Und wir können es schaffen. Angesichts des Ausmasses und der Dringlichkeit der sich abzeichnenden Krise sind drastische Massnahmen nötig, um den Rückgang aufzuhalten und damit anzufangen, das Verlorene wieder aufzubauen – damit anzufangen, unseren sterbenden Süsswasserökosystemen wieder Leben einzuhauchen.

Deshalb haben wir zusammen mit einigen der besten Forscher und Politikexperten der Welt den Emergency Recovery Plan, einen Notfallplan für die Süsswasserbiodiversität, entwickelt. Das sechs Punkte umfassende Strategiepapier, das vor Kurzem in der Fachzeitschrift BioScience veröffentlicht wurde, ist realistisch und pragmatisch und basiert auf Massnahmen, die bereits in einigen Flüssen, Seen und Feuchtgebieten erprobt wurden. Es handelt sich um einen umfassenden Plan, der eine Abkehr von der gegenwärtigen Politik der kurzfristigen Erfolge im Naturschutz darstellt und sich einem strategischeren Vorgehen zuwendet, das Lösungen in der Grössenordnung generieren kann, die zur Umkehr der Zerstörung der Biodiversität nötig sind – und mit denen wir den Weg in eine Zukunft einschlagen, in der unsere Süsswasserökosysteme wieder rundum gesund sind und vor Leben nur so strotzen.

Nichts davon ist Hexerei. Der Emergency Recovery Plan nimmt die grössten Gefahren für Süsswassersysteme ins Visier – Gefahren, die kein Geheimnis sind. Doch er tut dies auf neue Art und Weise und legt den Schwerpunkt dabei auf die zur Bewältigung der derzeitigen Krise nötige Grössenordnung und Geschwindigkeit.

Unser Plan fordert, rasch global Massnahmen zu ergreifen, damit Flüsse stärker ihrem natürlichen Verlauf folgen können, Schlüssellebensräume geschützt und renaturiert werden und die Verschmutzung drastisch reduziert wird. Er beschreibt die Notwendigkeit, die Ausbreitung invasiver im Wasser lebender Arten einzudämmen und der Überfischung und dem nicht-nachhaltigen Sandabbau ein Ende zu setzen. Er verweist auch auf die Notwendigkeit, die verbliebenen naturbelassenen Flüsse der Welt zu schützen und zehntausende veraltete Dämme und Barrieren zu entfernen.

Und nicht zuletzt empfiehlt der Emergency Recovery Plan eine Liste von Zielen, die als Grundlage für die neuen globalen Selbstverpflichtungen zum Schutz und zur Wiederherstellung der Biodiversität dienen, die Regierungen bei einer wegweisenden Konferenz der Biodiversitätskonvention im November unterzeichnen werden, sowie für die wichtigen diesjährigen Überprüfungen der Ziele für nachhaltige Entwicklung und des Pariser Klimaabkommens.

Diese Ziele werden dazu beitragen, entscheidende Lücken früherer Abkommen im Bereich Süsswasser zu schliessen. Dazu zählen etwa die Wiederherstellung natürlicherer Flussverläufe, die Kontrolle illegalen und unregulierten Sandabbaus in Flüssen und die Verbesserung des Managements des Süsswasser-Fischfangs, der hunderte Millionen Menschen ernährt.

Albert Einstein soll einmal gesagt haben: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ Wenn wir die Gesundheit von Süsswasserlebensräumen weiter unterschätzen und vernachlässigen, wird die Entwicklungskurve der Artenvielfalt weiter nach unten zeigen und unsere Lebensgrundlage wird schwinden – mit jedem kanalisierten Fluss, jedem verschmutzten See und jedem trockengelegten Feuchtgebiet. Wir werden jeden Fluss in eine Abflussrinne verwandeln, in deren Wasser und Ufergelände es kaum Leben gibt.

Oder wir können einen anderen Weg einschlagen. Wir können auf die Wissenschaft hören, uns für den Emergency Recovery Plan engagieren und Süsswasserarten und -ökosysteme – und uns selbst – retten, bevor es zu spät ist. Dies ist eine wirkliche Chance auf eine neue Zukunft: eine Zukunft, in der unsere Feuchtgebiete zum ersten Mal in unserem Leben Orte des Wachstums, des Reichtums und der Artenvielfalt sind. Wenn uns das Leben auf der Erde lieb ist, gibt es nur einen einzigen Weg, den wir einschlagen können: Wir müssen unsere Süsswassersysteme wieder auf Erholungskurs bringen.

Zurück zu unserem Gedankenexperiment. Sie können Ihr letztes Hemd darauf verwetten, dass die Regierungen nichts unversucht lassen würden, um einen plötzlichen und dauerhaften Einbruch des Dow-Jones-Index oder des FTSE 100 umzukehren. Auch Wirtschaftsführer, Kapitalgeber, Bürgermeister und Gemeinden würden dafür ihr ganzes Gewicht in die Waagschale werfen.

Damit unser Emergency Recovery Plan für die globale Süsswasserbiodiversität Erfolg hat, ist er auf eine ähnlich breite Unterstützung durch all diese Akteure, vor allem jedoch durch die Politik, angewiesen. Beobachten Sie unsere Meldungen... Denn wir werden beobachten, wie sich die Regierungen von nun an engagieren und schlagen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in Medium und wurde hier mit Genehmigung des WWF wiedergegeben.